Dienstag, 11. September 2012

Review: Porcupine Tree - The Incident

Dieses Mal ließ sich die kreative Bande um Steven Wilson zweieinhalb Jahre Zeit, bis nach dem letzten Progressive Rock-Lehrbuch "Fear Of A Blank Planet" die neue Platte "The Incident" entstand. In Anbetracht der zahlreichen Nebenprojekte der Bandmitglieder ist dies jedoch keine große Überraschung. Doch man möchte meinen, dass nach über zwanzig Jahren Bandgeschichte und zehn Studio-Alben die Luft irgendwann einmal raus sein muss?

Den großen Schock bringe ich gleich zu Beginn: Als langjähriger und euphorischer Fan der Band muss ich an dieser Stelle tatsächlich zugeben, dass die erfinderische Luft durchaus ein wenig an Substanz verloren hat, denn "The Incident" zählt definitiv nicht zu den größten Alben der Bandgeschichte, auch wenn ich den frischen Wind, der einem auf dieser Aufnahme ins Gesicht weht, begrüße. "The Incident" enttäuscht weder noch ist es einfältig oder gar langweilig, doch Alben wie "Up The Downstair", "In Absentia" oder "Deadwing" platzten zu ihrer Zeit völlig ungehalten aus den Boxen und sind bis heute solch großartige Alben, dass es sowieso ein Meisterwerk wäre, dieses Niveau auf Dauer zu halten oder gar zu übertreffen. Doch kehren wir zurück zu "The Incident" und fühlen uns ein wenig in das Doppelalbum ein.

Worum geht es bei "The Incident" überhaupt? Wie der Titel schon vermuten lässt, gibt das Album eine Unfallsituation als Grundgerüst der darauf basierenden Musik. Der Ablauf dieser war ursprünglich als großer Song-Zyklus geplant, sprich: ein einziger Song mit einer Spielzeit einer knappen Stunde. Wilson teilte diesen Zyklus kurz vor der Veröffentlichung dann doch noch in 14 kleine Kapitel, was der Übersicht natürlich zugutekommt. Dennoch merkt man anhand der teils sehr kurzen Cuts zwischen den einzelnen Tracks, dass sie einmal ein Ganzes waren.


Beim Blick auf die Tracklist erkennt man sofort, dass dadurch viele kleine Zwischenstücke wie "Occams' Razor""Great Expectations""Kneel And Disconnect""Your Unpleasant Family""Yellow Windows Of The Evening Train""Degree Zero Of Liberty" sowie "Circle Of Manias" entstanden sind, welche die wenigen großen Kapitel "The Blind House""Drawing The Line""The Incident""Time Flies""The Seance""Octane Twisted" und das abschließende "I Drive The Hearse" umgeben. Dies ist der wie bereits erwähnten Zerstückelung des Zyklus geschuldet und für die Verhältnisse von Porcupine Tree eher untypisch.

Untypisch ist auch der Einstieg, denn ein harmonischer Einstieg klingt definitiv anders. Knallhart beginnt die Reise mit dem kurzen Intro "Occams' Razor", welches bereits auf den desolaten Zustand des Albums einstimmt. Mit "The Blind House" eröffnet kurz darauf der erste große Track, welcher die Stimmung von "Occam's Razor" konsequent weiterführt. Dabei teilt sich dieser Abschnitt ebenfalls in zwei verschiedene Parts, denn während der erste Teil noch mit einer gedämpften Härte daherkommt, ist letzterer sehr verträumt und mit vielerlei elektronischen Effekten versehen. Der Refrain zeugt von einem kleinen Stilwechsel im Klanggerüst: Alles klingt vertraut und doch irgendwie neu, anders und frisch. An dieser Stelle kann man durchaus begeistert oder auch enttäuscht sein. Diese Einstellung wird sich in den nächsten Minuten kaum mehr verändern. So geht es mit diesem Sound-Setting auch auf den restlichen 50 Minuten weiter, wenngleich die gerade durch "Fear Of A Blank Planet" gewohnte Metall-Keule eher selten hervorspringt.

So geht es über das gefühlvolle "Kneel And Disconnect" hin zum schnell-rockigen "Drawing The Line" bis zum dystopischen Titeltrack "The Incident". Herausragend aus der Fülle der Songs ist das elfminütige "Time Flies", welches besonders stark in Verbindung mit dem vorangegangenen Interlude "Yellow Windows Of The Evening Train" harmoniert. Hier sieht man wieder die Wurzeln der Band und auch die Handschrift Wilsons, die eindeutig auf emotionalen Progressive Rock gepolt sind. Ein wunderbares Stück Musik, welche zum einen aus der Lebensgeschichte Steven Wilsons erzählt, zum anderen aufgrund der kernigen Aussage auch auf jeden anderen übertragen werden kann. Während "Degree Zero Of Liberty" ein zweites Ockhams Rasiermesser mimt, zeigen die folgenden Titel die Verspieltheit innerhalb des großen Zyklus, bis mit "I Drive The Hearse" der gefühlvolle Abgesang eingeleitet wird.

Der Zyklus ist vorbei, doch war es das noch nicht. Die zweite CD beinhaltet weitere vier Titel, die alle bei der Aufnahme entstanden sind, welche aber nach Aussage Wilsons wie schon bei der "Nil Recurring EP" abgeschottet wurden, da sie nicht in das Konzept gepasst haben. Diese vier Tracks gibt es sozusagen gratis oben drauf und hier darf jeder subjektive Nachdruck zu "The Incident" weichen, denn diese Titel haben es einfach in sich - unabhängig des Songzyklus der ersten Seite der Platte.

"Flicker" ist dermaßen atmosphärisch, dass man tatsächlich ein Kerzenschimmern vor Augen hat, während Wilsons zarte Stimme und die genialen Synthies einen regelrecht umhüllen. "Bonnie The Cat" ist ein metallisches und progressives Kaliber, welches so auch auf dem Album "Fear Of The Blank Planet" hätte stehen können. "Black Dahlia" schimmert als sehr ambiente Nummer durch, die sich auf den minimalen Einsatz von Klavier und Akustik-Gitarre beschränkt, während Wilson auf emotionaler Ebene erneut überzeugt. Das abschließende "Remember Me Lover" ist dann der sieben minütige Ritt vor dem Herren - und auch hier bemerkt der aufmerksame Fan, dass sich etwas im Klanggebilde der Jungs verändert hat.

Abschließend bleibt die Frage, wohin die Reise nach "The Incident" gehen wird. Kurz nach dem Erscheinen des Albums polarisiert das Album innerhalb Fan-Gemeinde stark. Und ja, die vorigen Alben kamen tatsächlich abwechslungsreicher und farbenfroher daher. Was bleibt ist ein schroffes, dunkles, teils episches Werk, welches genug Inhalt besitzt, um den Hörer lange Zeit zu fesseln, solange er sich für diese Seite der Band öffnen kann. Somit ist für Anhänger moderner Strukturen des Progressive Rock, atmosphärischen Synthies und der Stimme Wilsons auch "The Incident" eine Empfehlung, wenngleich es nicht den nächsten Höhepunkt der Band-Diskografie ausmacht.

Euer Fibo

Wertung

Tracklist von "The Incident" 

01. Occams's Razor (1:56)
02. The Blind House (5:47)
03. Great Expectations (1:26)
04. Kneel And Disconnect (2:03)
05. Drawing The Line (4:43)
06. The Incident (5:20)
07. Your Unpleasant Family (1:49)
08. Yellow Windows Of The Evening Train (2:00)
09. Time Flies (11:41)
10. Degree Zero Of Liberty (1:45)
11. Octane Twisted (5:03)
12. The Seance (2:39)
13. Circle Of Manias (2:19)
14. I Drive The Hearse (6:44)
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01. Flicker (3:42)
02. Bonnie The Cat (5:45)
03. Black Dahlia (3:40)
04. Remember Me Lover (7:34)

Weitere Infos 

Release: 11.09.2009
Gesamtspielzeit: 76:21
Steven Wilson (Gesang, Gitarre, Piano)
Colin Edwin (Bass)
Richard Barbieri (Electronica)
Gavin Harrison (Schlagzeug)

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